Am ersten Freitag im Juli war es wieder soweit: Pfarrer Herbert Lüdtke von der evangelischen Sankt-Georgsgemeinde in Steinbach lud gemeinsam mit Bernhard Antony (Leiter des Sozialen Dienstes der avendi Pflegeeinrichtung AN DER WIESENAU in Steinbach) alle Bewohner der Pflegeeinrichtung auf die Terrassen des Hauses zu einer musikalischen Zaunandacht ein. Pfarrer Lüdtke und Herr Antony haben mit ihrer musikalischen Andacht ein niedrigschwelliges, spirituelles Angebot für die betagten Bewohner der Einrichtung entwickelt und erreichen damit etwa einmal im Quartal eine große Anzahl der Hausbewohner; konfessionsübergreifend ist hier jedermann willkommen.
Der Ablauf folgt nicht streng einer Liturgie, Pfarrer Lüdtke gelingt es immer wieder, die Bewohner nicht nur auf Gedankenreisen mitzunehmen, sondern sie dabei auch aktiv in die Gesprächsentwicklung einzubinden. Die Lieder zum Mitsingen, die zwischen einzelnen Gedankenschritten von Pfarrer Lüdtke am Akkordeon und Herrn Antony (Gesang) angestimmt werden, sind keine klassischen Kirchenlieder aus dem evangelischen Gesangbuch, sondern in der Regel bekannte und jahreszeitlich stimmige Volkslieder aus den von Herrn Antony eigens zusammengestellten Liedsammlungen.
Unter den aktuellen Umständen der Corona-Pandemie-Lage sollte eine weitere musikalische Andacht unter freiem Himmel als Zaunandacht stattfinden. Nach einer herzlichen Begrüßung, die vom Weg, der parallel zu den Terrassen der Einrichtung verläuft, erfolgte, forderte Herr Pfarrer Lüdtke die auf den Terrassen anwesenden Besucher der Andacht auf, sich gemeinsam mit ihm auf die Gedankenreise zum Thema „Zäune und Grenzen“ zu begeben. Im Verlaufe des Nachmittags wurde gemeinsam entwickelt, was Zäune und Grenzen bedeuten und welche Funktionen sie haben. Es wurde gesammelt, welche sichtbaren und unsichtbaren Barrieren, Zäune und Grenzen für uns alle existieren. In der Regel geht es um Abgrenzung des Eigenen zum Anderen. Viele verbinden eine Schutzfunktion und Sicherheit mit Zäunen. Sie wecken aber zugleich Sehnsucht und Begehrlichkeiten in uns. Wer kennt nicht den Spruch „Die süßesten Kirschen sind die in Nachbars Garten“? Zäune und Grenzen sind oft mit Geboten/Verboten und der Androhung von Konsequenzen verbunden, z.B. „Gehe nicht in den dunklen Wald, sonst holt Dich der schwarze Mann“. Eine (innere) Auseinandersetzung und das Überwinden von Zäunen und Grenzen setzt Neugierde und die Bereitschaft, etwas Neues zu erfahren/zu entdecken, voraus.
Gelingt es einem, innere Ängste zu überwinden, gewinnt man an Selbstvertrauen. Eine Bewohnerin erzählte von einem Erlebnis aus ihrer Kindheit. Sie ist zum Kirschenklauen in den Kirschbaum des Nachbarn gestiegen und hat dabei noch eine ganz andere Erfahrung gewonnen: Wenn man einen Baum erklimmt, sieht man von oben die Dinge anders oder größer, in einem anderen Blickwinkel, aus einer anderen Perspektive. Die vielleicht letzte Grenzerfahrungen macht man im Alter. Das Sterben und der Tod. Einige Senioren verschließen ihre Augen und Gedanken vor diesem unangenehmen Thema, andere setzen sich bewusst mit der eigenen Vergänglichkeit auseinander, fragen sich auch, was kommt nach dem Tod, welche Vorstellung habe ich davon.
Zwischen den einzelnen Gedankengängen und zur Auflockerung der zugleich kurzweiligen und tiefgründigen Stunde wurden immer wieder Volkslieder angestimmt. „Die Gedanken sind frei“, „Aus grauen Städten Mauern“, „Kein schöner Land“ und viele andere Lieder wurden von dem dankbaren Publikum teilweise auswendig mitgesungen.
Im Sommer wird es noch mindestens eine weitere musikalische Zaunandacht geben. Dieses Versprechen mussten Pfarrer Lüdtke und Herr Antony den Senioren auf den Terrassen der Einrichtung An der Wiesenau in Steinbach geben.